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Digitalisierung der Arbeitswelt

Christoph Tönsgerlemann (ETL) im Gespräch mit Dirk Müller (Vivawest)
Digitalisierung der Arbeitswelt
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18.05.2022 — zuletzt aktualisiert: 24.05.2022 — Lesezeit: 8 Minuten

Digitalisierung der Arbeitswelt

Christoph Tönsgerlemann (ETL) im Gespräch mit Dirk Müller (Vivawest)

Am 03. Mai präsentierte ETL gemeinsam mit dem renommierten Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) den neuen ETL Mittelstandskompass 2022. Zum zweiten Mal wurden rund 2.000 Unternehmen aus dem produzierenden Gewerbe und der Dienstleistungsbranche befragt. Herausgekommen ist eine einzigartige Bestandsaufnahme des deutschen Mittelstandes. Im Interview mit Dirk Müller, CIO des Wohnungsanbieters Vivawest, sprach Christoph Tönsgerlemann, Vorstand ETL AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Steuerberatungsgesellschaft, über Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Industrieunternehmen, großen Familienunternehmen und mittelständischen Unternehmen bei der Bewältigung der großen Herausforderungen Digitalisierung, ökologische Transformation und Fachkräftesicherung.


Christoph Tönsgerlemann:

Wie unterscheiden sich digitale Reifegrade, Strategien und Transformationserfahrungen im Mittelstand in Abgrenzung zu großen Familienunternehmen und Industrie-Unternehmen?
Dirk Müller:
Meiner Erfahrung nach spielt zunächst einmal das Branchenumfeld eine wichtige Rolle bzgl. des Reifegrades der Digitalisierung. Unternehmen, die in Branchen mit einem großen Digitalisierungs-Druck unterwegs sind, z. B., weil sich bereits Plattformen im Endkunden-Markt des Unternehmens breit machen oder die Automatisierung von Prozessen im Kontext des Fachkräftemangels dringend geboten scheint, sind häufig (und manchmal gezwungenermaßen) früher als andere mit dem Thema konfrontiert gewesen.
Diese Unternehmen haben sich im Vergleich wesentlich früher sehr strukturiert und teilweise sehr offensiv auf die Reise der digitalen Transformation begeben. Dabei sind auch einige Leuchtturmprojekte entstanden – nicht immer mit messbaren Ergebnissen und Einfluss auf die Unternehmung. Die Mehrzahl der Mittelstandsunternehmen hat da häufig in der zweiten Reihe interessiert zugeschaut und von den Erfahrungen der anderen profitiert. Deren Mitteleinsatz erfolgte häufig wesentlich zielgerichteter und stärker fokussiert auf die Digitalisierung des eigenen Kerngeschäftes.
Familienunternehmen haben häufig dann einen Vorteil, wenn die Unternehmensstruktur schnelle Entscheidungen zulässt und Transformation aus dem Top-Management aktiv gefordert und vorgelebt wird. Weiterhin sind Familienunternehmen häufig eher langfristig orientiert. Da die Digitalisierung eine Transformationsfragestellung im Sinne einer Reise darstellt, ist das sicher zuträglich.

Was sind die Haupttreiber für Digitalisierungsprojekte?
Digitalisierung ist zunächst nur ein Mittel zum Zweck, um die gesteckten Ziele der Unternehmung zu erreichen. Daran hat es in der Vergangenheit häufig bei Unternehmen aller Größenklassen und Unternehmensformen gemangelt. Nur wenn die Ziele auch strategisch verankert sind, wird sich eine nachhaltige Veränderung einstellen. Nicht jede Innovation und jedes Projekt ergeben für jedes Unternehmen Sinn – der Kontext ist entscheidend.
Digitalisierung ist vor allem eines: eine Veränderung der Rahmenbedingungen, unter denen wir arbeiten, und damit einhergehend auch eine Veränderung bestehender Geschäftsmodelle – und das mit höherer Geschwindigkeit als bei anderen großen ökonomischen Veränderungen der Vergangenheit. Somit kann man Digitalisierung nicht mal eben im Sinne eines Projektes abarbeiten. Ich würde es eher als Investition in die Zukunftsfähigkeit betrachten.
Die derzeitigen Haupttreiber sehe ich vor allem darin begründet, das bestehende Geschäftsmodell durch Digitalisierung resilienter zu machen. D. h. beispielsweise durch Hyperautomatisierung und Serviceorientierung die Effizienz aber auch Effektivität zu erhöhen und gleichzeitig flexibler auf Anforderungen des Marktes reagieren zu können (neue Anforderungen der Kunden, externe Faktoren wie z. B. die Pandemie oder die Lieferkettenkrise). Neue digitale Geschäftsmodelle am Rande der Wertschöpfung zu schaffen, sehe ich nicht mehr als originären Antrieb. Vielmehr bedient man sich heute dafür anderer Modelle, wie z.B. Venture Studio- oder Venture Building-Ansätzen.

Welche Rolle spielen Plattformen in der Breite und in der Tiefe?
Nichts fasziniert Unternehmer im Kontext der Digitalisierung mehr als das Thema Plattformen. Nur muss man sagen, dass heute eine gehörige Portion Realismus bei der Einschätzung dazugekommen ist. Eine Plattform zu sein ist sicher lukrativ, aber eben auch unglaublich schwierig, weil eben verschiedene Seiten des Marktes an einer Stelle zusammenkommen – dafür benötigt es Inhalt und Attraktivität. In vielen Bereichen beherrschen globale Player wie Google oder Amazon den Markt – vor allem in Richtung B2C. Ich denke, je spezifischer das jeweilige Geschäftsmodell und je wichtiger meine Rolle im Markt ist, desto eher besteht die Chance darauf, noch eine Plattform etablieren zu können. Man muss dazu „nur“ genug Geld, Geduld und Mut haben. In der Regel sind Mittelständler eher Nutzer von Plattformen. Dabei muss man nur aufpassen, die Kundenbeziehung nicht an die Plattform zu verlieren. Das ist das Risiko, welches immer mitschwingt.
Konkretes Beispiel Vivawest: Natürlich schauen wir uns die großen Immobilienplattformen genau an. Und wir nutzen auch deren Reichweite bei der Platzierung unserer Angebote. Aber wir haben auch sehr gute eigene Vermarktungsansätze und vor allem mit unserem herausragenden Mieterportal einen Mehrwertservice, den Plattformen nicht bieten können. In Teilen bieten wir sogar über unser Portal unseren Mietern Dienstleistungen von Dritten an. Das hat also schon etwas von einer semioffenen Plattform.

Wie ist die Ausgangssituation von mittelständischen Unternehmen hinsichtlich IT-Umfeld und IT-Strategie?
Viele Mittelständler haben auch schon vor der Pandemie verstanden, dass es ohne Digitalisierung nicht mehr geht – nur jetzt werden einem die Defizite einer nicht vorhandenen Digitalisierungsstrategie schonungslos vor Augen geführt. Diese sollte vor allem handlungsorientiert und dem Unternehmenskontext angemessen sein. Ich glaube, es mangelt häufig an einer initialen Struktur, um die Handlungsstränge zu ordnen, zu priorisieren und mit den passenden Ansätzen anzugehen. Selbst wenn dann das „Was“ relativ gut strukturiert ist, steht immer die Frage der Umsetzung, also des „Wies“, im Raum. Gut gemachte Powerpoints helfen recht wenig, wenn es an Kompetenz und Mindset in der eigenen Organisation mangelt.

Welche Hemmnisse bestehen für die erfolgreiche Umsetzung von Transformationsprojekten?
Ich fasse mich kurz: Leadership. Natürlich sind am Ende Fachkräftemangel, technologische Hürden, mangelnde strategische Priorisierung und Datenschutzhemmnisse gute Gründe. Aber wenn das Thema Transformation nicht von ganz oben getragen, authentisch vorgelebt und mit klaren Botschaften kommuniziert wird, dann wird es schwer. Denn es fehlt in Teilen manchmal der Sinn für Dringlichkeit. Simon Sinek hat es schön formuliert: „People don’t buy What you do, but Why you do it.“ Das „Warum“ gibt einen emotionalen Anker neben der ganzen Rationalität, die Transformation mit sich bringt. Ein starkes „Warum“ motiviert ungeahnte Kräfte in der Organisation. Mit diesem Rückenwind lassen sich auch die oben genannten Hemmnisse überwinden.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt und dem Bedarf an Fachkräften?
Ohne Zweifel werden sich standardisierbare und repetitive Tätigkeiten durch die Digitalisierung stark verändern. Auch für wissensbasierte Tätigkeiten wird der Personalbedarf durch Automatisierung und Digitalisierung abnehmen. Die Jobprofile von morgen werden hingegen interessanter und anspruchsvoller werden. Wenn es keinen Versicherungsmathematiker mehr benötigt, um die Schadensklassen einer Versicherung zu berechnen benötigt man aber vielleicht genau diese Fähigkeit, um einen künstliche Algorithmus zu entwerfen und zu trainieren.

Kann die digitale Transformation einen Beitrag zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen leisten?
Da bin ich mir ganz sicher. Bei Vivawest z. B. ist das Thema Klimaschutz ein übergeordnetes Unternehmensziel. Mithin müssen und können unsere IT-Strategie und die Digitalisierungsstrategie dieses Ziel unterstützen. Wir entwickeln langfristig unseren Immobilienbestand in Richtung Klimaneutralität. Treiber dieser Strategie sind neben der Modernisierung des Gebäudebestands auch verfügbare technische Lösungen zur Messung von Preisen, Kosten, Verbräuchen und Nutzungsmustern. Denn nur was man messen kann, lässt sich regeln und damit steuern. Weitere signifikante Beiträge zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen werden künftige technische Innovationen leisten, deren Nutzung wir durch die digitale Transformation vorbereiten müssen.


IT- und Digital-Strategie zur Chefsache machen!


BU Christoph Tönsgerlemann ist Vorstand der ETL Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Steuerberatungsgesellschaft und berät Mandanten aus dem Mittelstand bei der Umsetzung von formellen Digitalstrategien

Die Diskussion und die Interpretation des ersten ETL Mittelstandskompass in 2021 mit Vertretern aus Politik und Verbänden war sehr geprägt von der Bundestagswahl im September letzten Jahres. Somit standen naturgemäß übergeordnete Ziele der Adressaten im Fokus der Interpretation der Studien-Ergebnisse.
Die Erkenntnisse nach über zwei Jahren Pandemie, die bereits kurzfristig spürbaren Wirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine sowie die Entwicklung von Wertschöpfungsschritten in einer durch Technologie und Demografie veränderten Welt im Allgemeinen unterstreichen allerdings die dringende Notwendigkeit für mittelständische Unternehmen, die Resilienz des eigenen Geschäftsmodells zu überprüfen.
„Hier decken sich unsere Erfahrungen mit der Einschätzung von Dirk Müller. Gerade inhabergeführte Unternehmen sind häufig abgeschreckt vom Digitalisierungshype der letzten Jahre und haben eher abgewartet und Erkenntnisse gesammelt. Derart passive Strategien können zwar Fehlinvestitionen vermeiden; allerdings fehlt es dadurch auch heute in vielen Unternehmen an einer IT- und Digitalstrategie zur Unterstützung der Unternehmensstrategie.
Wo heute noch IT-Projekte eher als Kostenstellen und nicht als strategische Investitionen betrachtet werden, ist eine möglichst kurzfristige Änderung der Sichtweise dringend zu empfehlen.“
Viele erfolgreiche mittelständische Unternehmer haben den Beweis dafür angetreten, dass die Entwicklung und Umsetzung einer IT- und Digital-Strategie nicht nur für große Industrieunternehmen mit hohen Budgets zu stemmen ist.
Inhaber und Geschäftsführer werden am Markt verlässliche Partner zur Umsetzung finden, wenn Sie das Thema zur Chefsache machen und sich in ihrem Netzwerk informieren. Häufig sind Standard-Lösungen zur (Cloud)IT-Infrastruktur in Kombination mit Branchen-Lösungen für Prozesse und Wertschöpfung einfacher umsetzbar als vielfach befürchtet.
Das Thema „Nachhaltigkeit“ ist ebenso wenig ein „Hype“ wie Digitalisierung. Vielmehr zeigen bereits viele erfolgreiche Unternehmen, dass gerade die Nutzung von neuen Technologien eine Voraussetzung zur Reduzierung des Ressourcenverbrauchs ist und die permanente Verfügbarkeit von belastbaren Informationen Voraussetzung für die Resilienz der Geschäftsmodelle ist.
Unternehmen, die diese Voraussetzungen erfüllen, sind auch in Zeiten des Fachkräftemangels für junge und „ältere“ Talente interessant. Denn diese Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern die Möglichkeit, kreativ und interaktiv an neuen Wertschöpfungen mitzuarbeiten.

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Christoph Tönsgerlemann
Wirtschaftsprüfer, Steuerberater

Mail: wp-essen@etl.de


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